Lovis Corinth

Lovis Corinth
(Tapiau, Ostpreußen 1858 - 1925 Zandvoort)

Lebensfreude, 1898

Öl auf Leinwand, 86,5 x 96,5 cm
Signiert unten links Lovis Corinth
Rückseitig drei Aufkleber Kunsthalle Basel Nr. 1237, 1265, 240.

Provenienz:
Karl Strathmann (1866-1939), München;
Dr. H. Bünemann (1895-1976), München;
Hartmann Greiner, Stuttgart, Auktion, 5.4.1949, Nr. 8, Tafel III;
Galerie Weber, München (1953);
Sammlung Georg Schäfer, Schweinfurt, Inv. Nr. L 1407;
Privatsammlung, Deutschland.

Ausstellung:
Ausstellung der Luitpold Gruppe, München, Kunsthandlung Heinemann, Februar 1899 (als Lebensfreude);
Lovis Corinth. Katalog der Ausstellung des Lebenswerkes von Lovis Corinth, veranstaltet von Paul Cassirer in den Räumen der Berliner Secession, 19.1.-23.2.1913, S. 13, Nr. 38 (Freude am Leben, unverkäuflich);
Gedächtnisausstellung Lovis Corinth, Berlin, Nationalgalerie, 1926, Nr. 58;
Lovis Corinth, Basel, Kunsthalle, 1936, Nr. 7 (Privatsammlung München);
Lovis Corinth, Stuttgart, Kunsthaus Bühler, 1983;
Zeitwende. Gemälde aus der Sammlung Schäfer, Schweinfurt, Museum Georg Schäfer, 1995, S. 28, Nr. 1, Farbabb.

Literatur:
Karl Voll, ‚Die Frühjahr-Ausstellung der Münchener Secession und der Luitpoldgruppe’, in Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, 13. April 1899, S. 198-9;
Alfred Kuhn, Lovis Corinth, Berlin 1925, S. 73, Abb. 29;
Alfred Rohde, Der junge Corinth, Berlin 1941, S. 143, Abb. 101;
Alfred Rohde (Hg.), Lovis Corinth: sechzig Bilder, Kanterbücher, Königsberg 1942, Abb. (Privatbesitz München);
Charlotte Berend-Corinth, Die Gemälde von Lovis Corinth: Werkkatalog, München 1958, Nr. 153, Abb. S. 350;
Peter Hahn, Das literarische Figurenbild bei Lovis Corinth, Diss. Tübingen 1970,
S. 81;
Charlotte Berend-Corinth, Lovis Corinth, die Gemälde: Werkverzeichnis, München 1992, Nr. 153, Abb. S. 380;
Bruno Bushart, Matthias Eberle, Jens Christian Jensen, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt. Erläuterungen zu den ausgestellten Werken, Schweinfurt 22002, S. 58-59.

Lovis Corinths Malerei führt bei Kunsthistorikern zu anhaltenden Kontroversen. Ist seine Malerei dem 19. oder dem 20. Jahrhundert zuzuordnen, ist er Traditionalist oder ein Vorreiter der Moderne? Erst in jüngerer Zeit wird die Widersprüchlichkeit und die Diskontinuität von Corinths Werk akzeptiert und damit auch besser verstanden. Georg Bussmann schreibt 1985: „Er malt wie vom Nullpunkt der Malerei aus, und jedes Mal ist es ein ‚Kampf mit dem Engel’. Er setzt ein Stück seiner Professionalität aufs Spiel und erfährt Malen als das letzte und eigentliche Abenteuer.“1

Beim heutigen Betrachter erzeugen besonders die Historienbilder des Frühwerks ambivalente Gefühle. Corinth überrascht mit einer drastischen Direktheit, die schockierend ist, manchmal bis zum Lächerlichen. Was die ältere Kunstkritik oft als Geschmacklosigkeit rügt, ist das eigentlich faszinierende an Corinth – sein Naturalismus.

Lebensfreude entstand 1898 gegen Ende seines zweiten Münchenaufenthalts zwischen 1891 und 1900. Die Kunstszene dort galt als besonders innovativ. Corinth war zu diesem Zeitpunkt längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Hinter dem 33-jährigen lagen die Akademiejahre in Königsberg, seine ersten Jahre in München an der Kunstakademie von 1880 bis 1883, ein kurzer Aufenthalt in Antwerpen bei dem Maler Paul Eugène Gorge, ein längerer Parisaufenthalt an der Académie Julian bei Adolphe William Bougereau und Tony Robert-Fleury, gefolgt 1887 von einem Besuch in Berlin, bei dem er Max Klinger, Walter Leistikow und Karl Stauffer-Bern kennenlernte. Er hatte bereits am Salon in Paris und auch in London ausgestellt. In Paris beeindruckten ihn besonders die Werke von Jean-Louis-Ernest Meissonier, Jules Bastien-Lepage und dort ausgestellte Werke Wilhelm Leibls.

Leider wissen wir weder von Corinth noch aus anderen Quellen etwas über das Werk Lebensfreude oder über die Identität der dargestellten Personen. Sicher scheint aber, dass es sich um den Originaltitel handelt. Als Lebensfreude wurde das Bild, ein Jahr nach seiner Entstehung 1899, in der Frühjahrsausstellung der Luitpoldgruppe in München ausgestellt.2 Charlotte Berendt-Corinth erwähnt im WVZ von 1958 die Existenz einer Vielzahl von Handstudien – ein Hinweis auf den Stellenwert des Gemäldes in Corinths Oeuvre.

Im Hintergrund rechts und links zwei Paare in heiratsfähigem Alter. Das Paar links gemeinsam vom Blatt singend, das andere innig vereint, der Ehering ostentativ sichtbar. Im Vordergrund eine junge Frau einen Knaben und ein Mädchen mit den Armen familiär umfangend. In den Händen halten sie Blumen, die in der christlichen Ikonographie eine Rolle spielen: die Lilie verweist auf die Verkündigung, Rose und Nelke auf die Passion Christi. Taumelnde Schmetterlinge und blühende Kastanienzweige im Hintergrund füllen den letzten freien Raum der dichten Komposition. Das komplizierte Zusammenspiel der Hände visualisiert in altmeisterlicher Manier die Bezüge zwischen den Personen.

Abb. 1 Lovis Corinth, Kreuzabnahme, 1895, Öl auf Leinwand, 95 x 120 cm, Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Fondation Corboud, Inv. Nr. Dep. 355.

Abb. 2 Lovis Corinth, Kreuzigung, 1897, Öl auf Leinwand, 36,3 x 46 cm, Bad Tölz, evangelische Johanneskirche.

Ein Vergleich mit anderen Werken Corinths in den Jahren vor und im Entstehungsjahr von Lebensfreude ist aufschlussreich. Neben zwei meisterlichen Schlachthausszenen von 1896/97 fallen die vielen Historienbilder auf: Die kompositorisch ähnlich aufgebaute Kreuzabnahme 1895 (Abb.1), ein Bacchantenzug und ein Bacchanale 1896, Geburt der Venus 1896, Kreuzigung 1897 (Abb. 2), Susanna und die Alten 1897 und Die Versuchung des hl. Antonius 1897. Dazwischen gibt es eine ganze Reihe von Frauenporträts, eng gefasste Büsten oder Köpfe, die fast penetrant den Blickkontakt mit dem Betrachter suchen. So wie die zentrale Frauenfigur in Lebensfreude, deren Gesicht von einem Hut beschattet wird, ebenfalls den direkten Blickkontakt mit dem Betrachter herausfordert. Das junge singende Paar links scheint identisch mit den Modellen für die linken Figuren der Kreuzigung, ein Jahr zuvor, 1897. Die Fratze des rechten Häschers in der Kreuzigung ist übrigens ein Selbstporträt des Malers. Die in ländlicher Tracht gekleideten Figuren in Lebensfreude sind keineswegs Landleute. Ihr Auftritt ist sicher und ohne Scheu, wie man das bei Modellen aus dem Freundeskreis des Malers erwarten würde.

Abb. 3 Lovis Corinth, Der Maler Carl Strathmann,
1895, Öl auf Leinwand, 111 x 82,2 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Inv. Nr. G 10755.

Auch der Erstbesitz des Gemäldes kann bei seiner Interpretation helfen. Es ging unmittelbar über in den Besitz des Münchner Malerfreundes Carl Strathmann (1866-1939), seit den 1890er Jahren ein enger Freund Corinths. Eine Reihe von Postkarten Corinths an Strathmann gibt Einblick in die herzliche Beziehung und in das gemeinsame gesellschaftliche Umfeld. In seiner Autobiographie 1909/1918 Legenden aus dem Künstlerleben3 charakterisiert Corinth den Freund als lebensfrohen Bon Vivant. Das von Corinth 1895 gefertigte Porträt Strathmanns zeigt diesen als selbstbewussten Dandy und Lebensmensch (Abb. 3). So ist Lebensfreude womöglich als Hommage an den Freund gedacht.


1 Georg Bussmann, Lovis Corinth, Carmencita, Malerei an der Kante, Frankfurt 1985, S. 59-60.

2 Vgl. Karl Voll, ‚Die Frühjahr-Ausstellung der Münchener Secession und der Luitpoldgruppe’, in Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, 13. April 1899, S. 189.
Zu der Künstlerfreundschaft siehe https://sammlungonline.lenbachhaus.de/album/prost-lovis-corinth-und-strathmann-eine-kuenstlerfreundschaft-17.html (17.01.2020).

3 http://www.zeno.org/Kunst/M/Corinth,+Lovis/Legenden+aus+dem+K%C3%BCnstlerleben/Carl+Strathmann (22.01.2020).

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