Walter Richard Sickert (München 1860 - 1942 Bathampton)
„The Rose Shoe“, ca. 1904
Öl auf Leinwand, 38 x 46 cm
Signiert unten links Sickert.
Provenienz:
W. Freshfield
The Fine Art Society, London
R. Markarian
The Fine Art Society, London
Ivor Braka Ltd., London
Privatsammlung, England
Ausstellung:
The Art of Sickert, Gordon Fraser Gallery London, 30. Januar - 15. Februar 1936,
Nr. 10
Walter Richard Sickert. The Human Canvas, Kendal, Abbot Hall Art Gallery, 9. Juli - 30. Okotober 2004, Nr. 14
Walter Sickert. The Camden Town Nudes, London, Courtauld Gallery, 25. Oktober 2007 - 20. Januar 2008, Nr. 1
Literatur:
Wendy Baron, Sickert. Paintings and Drawings, New Haven und London 2006,
Nr. 191
Wendy Baron, ‚The Process of Invention. Interrelated or Interdependent. Sickert’s Drawings and Paintings of the Intimate Figure Subject’, in Walter Sickert: The Camden Town Nudes, Kat. Ausst. The Courtauld Gallery, London 2007, S. 28 (Abb.)
Den ersten Blick des Betrachters fängt der von Sickert in die Bildmitte gesetzte extravagante Damenschuh. Sein rotes Innenfutter leuchtet suggestiv aus dem tonig gehaltenen Bild. Erst im zweiten Blick entdeckt der Betrachter auf dem Bett die Besitzerin. Sie ist unbekleidet, ihre Körperkontur scheint mit dem zerwühlten Bett zu verschmelzen. Die Geschichte hinter der Darstellung bleibt, ebenso wie die Identität der Schlafenden, rätselhaft. Sie liegt bäuchlings dem Betrachter den Rücken zugewandt, ihr vom rechten Arm unterstützter Kopf hängt über den Bettrand. Die unbequeme Schlafposition, man würde sie nicht freiwillig wählen, wohl aber nach durchzechter Nacht, erinnert ein wenig an die schlafende Absinth Trinkerin Edvard Munchs von 1895.[1]
Walter Sickert war seit den 1880er Jahren ein ebenso berüchtigter wie angesehener Avantgardekünstler in London. Der Rolle des Dandys zugeneigt, fand er seine Motive mit Vorliebe in den Tanzlokalen und Musiksälen der Metropole. Nach einem Intermezzo, das ihn 1899 nach Paris, Venedig und Dieppe führte und im Wesentlichen Landschafts- und Architekturbilder hervorbrachte, kehrte er 1904 wieder nach London zurück. Angeregt von dem Nachtleben in Paris und dem quirligen Dieppe, damals eine sehr lebendige Stadt, findet seine Kunst mit der Hinwendung auf den weiblichen Akt eine neue Orientierung. Die Serie seiner „Camden Town Nudes“, schonungslos realistisch gemalte Frauenakte, meist auf einfachen Metallbetten ausgestreckt, wie man sie in den schäbigen Absteigen Camdens finden konnte, wurden für das kommende Jahrzehnt sein zentrales Bildsujet und avancierten zu seinem Signet.
„The Rose Shoe“ ist das erste Gemälde dieser Aktserie und eines der wichtigsten Gemälde Sickerts. Es markiert den Wendepunkt in seinem Schaffen. Zu dem Gemälde haben sich Studien erhalten: „The Little Bed“ von 1902[2], sowie „Nude on a Couch“ von 1902-04[3], wo der Akt bereits auf dem bildparallelen Bett liegt, davor der Schuh. Auf dem ausgeführten Gemälde rückt er das Bett schräg in den Raum wodurch größere Tiefe und Lebendigkeit entsteht; zugleich ist der Akt in der entspannten, mit dem Kopf über den Bettrand gerutschten Position weniger konturiert als in den Vorzeichnungen.
Sickert erlaubt dem Betrachter einen privaten, unbemerkten Blick auf die Schlafende – sie könnte gar leblos sein. Dieses voyeuristische Moment, verbunden mit der unbeantworteten Frage nach der Beziehung zwischen Maler und Modell – ist sie die eine Fremde, die Geliebte oder käuflich? – erzeugt die Vieldeutigkeit, die das Gemälde so reizvoll macht.
Der lockere, skizzenhafte Pinselduktus und die gekonnt auf wenige zurückhaltende Töne reduzierte Palette – einzig das Rot des Schuhs sticht hervor – sind für Sickerts Akte der Folgejahre richtungsweisend. Sie brechen mit der Tradition des akademischen Aktes und verzichten auf eine mythologische Verbrämung des Sujets.
Sickerts Interesse für Menschen am Rande der Gesellschaft, Prostituierte, Tänzerinnen sowie der Besucher der zahlreichen Nachtclubs in seinem Viertel eint ihn mit Henri de Toulouse-Lautrec und Edgar Degas, mit dem er auch freundschaftlich verbunden war und der ihn stilistisch beeinflusste. Sickert war fasziniert von einer Mordserie an Frauen des Rotlichtmilieus, die London während der 1880er Jahren in Atem hielt, dem sogenannten Camden Town Murder, sowie den Umtrieben des geheimnisvollen Frauenmörders Jack the Ripper. Von ihm nimmt man an, er habe in demselben Gebäude wie Sickert am Mornington Crescent gewohnt.[4] Eines der unzähligen Gerüchte über die nie geklärte Identität des Mörders bringt sogar Sickert selbst ins Spiel.
Der in München geborene und bereits als Kind nach England umgesiedelte Sickert wurde eine einflussreiche Figur der Übergangszeit zwischen Impressionismus und Moderne. In England gilt er als der bedeutendste Maler zwischen William Turner und Francis Bacon.3
[1] Munchs Zeichnung stammt aus dem Jahr 1895. Vgl. Gerd Woll, Edvard Munch. The Complete Graphic Works, London 2012, Nr. 10.
[2] Bleistift und schwarze Kreide, 15,7 x 28,2 cm, Privatbesitz; Baron 190.
[3] Bleistift, 30,9 x 22,3 cm, Princeton University Art Gallery; Baron 191.1. Bleistift, 30,9 x 22,3 cm, Princeton University Art Gallery; Baron 191.1.
[4] Beiden Mordserien widmete sich Sickert mit Darstellungen, vgl. Jack the Ripper’s Bedroom, 1906-07, Öl auf Leinwand, Manchester City Gallery; Baron 247.2 und The Camden Town Murder, 1907-08, Öl auf Leinwand, Privatbesitz; Baron 344.