Lovis Corinth (Tapiau 1858 - 1925 Zandvoort)
Selbstbildnis, um 1916
recto:Wagen des Phaeton (Abb. 1)
Aquarell auf Papier, verso Bleistift, 28 x 21, 5 cm
Signiert unten rechts Lovis Corinth
Provenienz:
Sammlung Dr . Ludwig Burchard, Berlin/Antwerpen/London;
Stefanie Maison, London;
V. Thaw, New York;
Paul Drey Gallery, New York;
Privatsammlung, Deutschland.
Ausstellungen:
Exhibition of Twentieth Century German Art, London, New Burlington Galleries 1938, Kat. Nr. 33;
Lovis Corinth, New York, Gallery of Modern Art (Huntington Hartford) 1964, Kat. Nr . 88;
Lovis Corinth, Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik, München, Galerie Arnoldi Livie 1972, Farbabb. auf der Einladungskarte;
Lovis Corinth, Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Graphik aus den Jahren l9l5-l925, Bremen, Kunsthandel Wolfgang Werner l990, Kat. Nr. 10, Farbabb.;
Lovis Corinth 1858-1925, Zeichnungen und Aquarelle aus seinen letzten Jahren, Berlin/Bremen, Kunsthandel Wolfgang Werner 1994, Kat. Nr. 2, Farbabb.;
Lovis Corinth, München, Haus der Kunst, Berlin, Nationalgalerie, St. Louis, The Saint Louis Art Museum, London, Tate Gallery l996/1997, Kat. Nr. 229, Farbabb. S. 342;
Ich, Lovis Corinth. Die Selbstbildnisse, Hamburg, Hamburger Kunsthalle 2004/2005, Kat. Nr. 27, Farbabb.
Das beste und willigste Modell aber ist ‚man selbst‘.
(Lovis Corinth, Das Erlernen der Malerei, 1908)
Lovis Corinth schuf zahlreiche Selbstporträts, die sich, einem roten Faden gleich, durch sein Werk ziehen. Die Selbstbildnisse sind vielseitig, manche von entwaffnender Offenheit, andere einfühlsam, zart. Sie sind ein Ringen um Wahrhaftigkeit und ermöglichen unterschiedlichste Einblicke in Corinths facettenreiche Persönlichkeit.
Immer setzen sich die Selbstportäts mit der Endlichkeit auseinander. Vor dem 1911 erlittenen Schlaganfall mit einigem Selbstbewusstsein, wie in dem berühmten Selbstbildnis von 1886, in dem der bullige Künstler, selbstbewusst in frontaler Pose, neben einem als Atelierrequisit dienenden Skelett posiert. Ganz anders der Ton in vorliegendem Aquarell, wohl um 1916, jedenfalls nach dem 1911 erlittenen Schlaganfall entstanden. Die üppige Selbstinszenierung ist einer tiefen Verunsicherung gewichen. Chorinth macht einen fragilen Eindruck, die halbseitige Lähmung durch den Schlaganfall empfindet er als existenzielle Zäsur, auch wenn das seiner künstlerischen Arbeit zunächst keinen Abbruch tut. Die Endlichkeit vor Augen findet er zu einem energischen Spätstil. Diese Ambivalenz visualisiert das Selbstporträt auf wunderbare Weise. Alles ist Zaudern, aber die kräftigen blauen Augen strahlen denoch Zuversicht aus. Diese wird sich erst in den späten Selbstbildnissen der 20er Jahre verlieren.1
Das vorzustellende Selbstbildnis weist eine beeindruckende Reihe von Vorbesitzern auf. Einer, Dr. Ludwig Burchard, ein Berliner Sammler, der Deutschland noch rechtzeitig verlassen konnte, hatte es mit sich nach London ins Exil genommen. 1938 lieh er es auf die berühmte Ausstellung Exhibition of Twentieth Century German Art, London. Die Ausstellung, organisiert von dem berühmten Kunsthistoriker und Kritiker Herbert Read und bestückt mit jenen wichtigen Werken des deutschen Expressionismus, die verfehmte Künstler und Emmigranten nach England gebracht hatten, gilt heute als einer der wichtigsten zeitgenössischen Proteste gegen die Kunstpolitik der Nationalsozialisten.
Lovis Corinth zählt mit Max Liebermann und Max Slevogt zu den bedeutendsten Vertretern des deutschen Impressionismus. Obwohl dieser Terminus deutlich zu kurz greift, um das vielseitige Talent dieses Malers hinreichend zu charakterisieren, der im Laufe seines Lebens so viele verschiedene Positionen und Tendenzen europäischer Kunst aufgenommen hat. Seine ambivalente Stellung zwischen Tradition und Moderne ermöglicht Corinth ein Themenspektrum und einen Facettenreichtum, der historische, religiöse und mythologische Darstellungen ebenso umfasst wie das Porträt, das Stillleben, die Landschaft und mit Ausdauer immer wieder das Selbstbildnis.
Corinth lebte nach Studienjahren in Königsberg, München, Antwerpen und Paris zunächst acht Jahre in München und ab 1899 bis zum Ende seines Lebens in Berlin. Er spielte eine wichtige Rolle im künstlerischen Leben dieser Stadt, war Vorstandsmitglied der Sezession und wurde 1911 zu deren Vorsitzendem gewählt. Sein Erfolg, der ihm mit seiner Frau Charlotte und den beiden Kindern, Thomas und Wilhelmine, ein wohlhabendes Leben ermöglichte, beruhte auf der Kombination einer traditionellen, akademischen Ausbildung und einer, unter anderem bei dem Pariser Salonmaler Bougereau erworbenen, technischen Perfektion. Hinzu kam ein neuer Blick auf historische, mythologische oder religiöse Themen. Es gelang Corinth, seine Historienbilder mit zeitgenössischen Werten und moderner Sensibilität in Einklang zu bringen. Darüberhinaus war er ein gesuchter Porträtist.
Stillleben und Landschaften gewinnen erst in Corinths Spätwerk große Bedeutung. Ab 1912/13 verändert er seine Malweise, die von einer zunehmend spontanen, impulsiven Faktur bestimmt wird. Atmosphäre, Farbigkeit und Licht werden zu den eigentlichen Themen seiner Gemälde. Das ist vor allem vor den „Walchenseebildern“ wahrzunehmen, einer Gruppe von 55 Landschaften, die ab 1918, beginnend mit dem ersten Aufenthalt des Malers in den oberbayerischen Alpen entstehen.
Die öffentliche Wahrnehmung spiegelt Corinths neue Entwicklung. Zu seinem 65. Geburtstag präsentiert die moderne Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais in Berlin zu seinen Ehren 170 Gemälde und eröffnet – neben Nolde, Beckmann, Kirchner, Beckmann oder Marc2 gewidmeten Räumen – einen Corinth-Saal in ihrer ständigen Sammlung. Julius Meier-Graefe, der wichtige Kunstkritiker und -schriftsteller schreibt ihm: Ich bin, wie Sie wissen, im Herzen den großen Franzosen zugeneigt und habe oft vor Ihren Bildern Mühe, alle Vorstellungen von dem Organismus des Bildes, die sich mit Renoir, Cézanne, Delacroix verknüpfen, zurückzudrängen. Nie ist mir das so leicht gefallen wie in Ihrer Ausstellung gestern. Das Geschmäckliche hat bei einem so bildhaften Künstler wie Ihnen nichts mehr zu sagen. Es riecht viel besser in Paris, aber ich pfeife auf jedes Parfüm, wenn ich so viel überströmende Natur empfange.3
Die von Meier-Graefe hervorgehobene, neue „Naturnähe“ in Corinths Werk setzt in den Jahren nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch im Dezember 1911 ein. Der seitdem psychisch veränderte, sich der eigenen Fragilität und Todesnähe bewusste Maler schrieb am Ende seines Lebens … die wahre Kunst ist Unwirklichkeit üben. Das Höchste!4 Er brachte damit den radikal malerischen Ansatz seines Spätwerks auf eine Formel, die verständlich macht, dass der Maler die „Natur der Dinge“ nicht durch ihre illusionistische Wiedergabe erfasst, sondern durch eine Übersetzung in Farb- und Lichtwerte, durch die Transponierung in eine autonome malerische Struktur. Die Subjektivität des Künstlers, seine besondere Wahrnehmung prägen den malerischen Prozess, was für die späten Stillleben Corinths in besonderem Maße gilt. Ihre sinnliche Schönheit umfasst das Moment der Auflösung; ihre exzessiv ausgekostete Farbigkeit stellt sich der Vergänglichkeit entgegen und macht sie so bewusst. Der mit dem Stillleben von jeher verbundene Vanitas-Gedanke findet seinen Ausdruck in einer neuen malerischen Freiheit des alternden Künstlers, der den Tod vor Augen hat.
1 Vgl. Ich, Lovis Corinth. Die Selbstbildnisse, Hamburg, Hamburger Kunsthalle 2004/2005; Lovis Corinth, Kat. Ausst. München, Haus der Kunst, Berlin, Nationalgalerie, St. Louis, The Saint Louis Art Museum, London, Tate Gallery l996/1997, S. 339, 342.
2 Kurt Winkler, ‚Ludwig Justi und der Expressionismus. Zur Musealisierung der Avantgarde’, in Kristina Kratz-Kessemeier, Ludwig Justi. Kunst und Öffentlichkeit. Beiträge des Symposiums aus Anlass des 50. Todestages von Ludwig Justi (1876–1957), Staatliche Museen zu Berlin und Richard-Schöne-Gesellschaft (Jahrbuch der Berliner Museen, NF Bd.52), Berlin 2011.
3 Zitiert nach Peter Kropmanns, Lovis Corinth. Ein Künstlerleben, Ostfildern 2008, S.109
4 Lovis Corinth, Selbstbiographie, 31.März 1925, Leipzig 1993.