Lotte Laserstein
(Preußisch Holland 1898 - 1993 Kalmar, Schweden)
Kinder mit Handwagen, 1932
Öl auf Holz, 127 x 81 cm
Signiert oben links Lotte Laserstein
Provenienz:
Besitz der Künstlerin, Berlin, ab 1932;
ab1937 Besitz der Künstlerin in Schweden;
Privatbesitz, Schweden, direkt von der Malerin erworben;
In Erbfolge, Schweden.
Literatur:
Anna-Carola Krausse, Lotte Laserstein (1898-1993). Leben und Werk, Berlin 2006, Nr. M 1932/14
Das Gemälde Kinder mit Handwagen entstand 1932, während eines Studienaufenthalts im Teufelsmoor unweit von Neu Sankt Jürgen, einem kleinen Dorf in der Nähe der ehemaligen Künstlerkolonie Worpswede, bei Bremen gelegen. Das belegen Fotos im Nachlass der Künstlerin. Laserstein, eine große Bewunderin Paula Modersohn-Beckers (1876-1907), unternahm zwischen 1931 und 1935 mit den Schülern ihrer Malschule verschiedene Exkursionen aufs Land, in die Lüneburger Heide, nach Sahlenburg bei Cuxhaven und eben 1932 ins Teufelsmoor bei Worpswede. In der Regel gab Laserstein das Motiv vor, arbeitete es dann zusammen mit ihren Schülern aus, um die entstandenen Kunstwerke anschließend zu diskutieren (Abb. 1).
Souverän bedient sich die Malerin im reichen ikonographischen Fundus der Kunstgeschichte1, mit dem sie bestens vertraut war. Die Auseinandersetzung mit den großen Vorbildern zieht sich durch das Werk der Künstlerin. Oft übernimmt sie Pathosformeln aus dem sakralen Bereich, die sie dann profanisiert. Dies gilt nicht nur für ihr berühmtestes Werk Abend über Potsdam, sondern auch für das vorliegende Werk, in dem die Deichsel des Handwagens als Kruzifix erscheint. Laserstein profanisiert religiöse Motive, erhält aber deren Pathos.
Anna-Carola Krausse, die Autorin des Werkverzeichnisses von Lotte Laserstein, schreibt zu vorliegendem Gemälde:
Das Gemälde Kinder mit Handwagen darf als eine der bedeutendsten Arbeiten Lotte Lasersteins aus den 1930er-Jahren betrachtet werden. Zwei Jahre nach ihrem Hauptwerk Abend über Potsdam (Abb. 2) entstanden, ist auch diese Komposition von jener gedankenverlorenen Versunkenheit gekennzeichnet, die der Potsdamer Tischgesellschaft eigen ist. In sich gekehrt, auf engen Raum beieinander und doch voneinander keine Notiz nehmend, stehen ein kleiner Junge sowie ein junges Mädchen an einem Bollerwagen, in dem wiederum ein blondes Kleinkind sitzt. Die samtig-satte Farbigkeit seines roten Pullovers verleiht der in gedeckten Tönen gehaltenen Komposition einen besonderen Akzent, wie auch die erhobenen geballten Fäustchen eine unruhige Bewegung andeuten, die in spannungsvollem Kontrast zu der statuarischen Ruhe der flankierenden Kinder steht, die in einer Art Schicksalsergebenheit über die braune Heide schauen. Ein wolkenverhangener Himmel hinterfängt die in leichter Untersicht erfasste Kindergruppe. Obwohl durch diese Perspektive gleichsam monumentalisiert, wohnt den Bauernkindern nichts Heroisches inne. Im Gegenteil unterstreicht das von schweren Wolken getrübte Licht einmal mehr die gedämpfte Stimmung. Zudem ruft die Atmosphäre der Szene abermals den Abend über Potsdam in Erinnerung, in dem der sich verdunkelnde Himmel ebenfalls von zentraler Bedeutung für die Bildaussage ist. Selbst die dem Potsdam-Bild durch das Abendmahlsmotiv innewohnende Allusion an christliche Ikonografie erfährt hier eine Reprise, erscheint doch der in die Höhe ragenden Griff des Handwagens auf den ersten Blick wie ein Kreuz, das der dem Betrachter abgewandte Junge andächtig vor sich hält.
Kinder mit Handwagen ist ein weiteres bestechendes Beispiel für Lasersteins „Melancholischen Realismus“. In der delikaten malerischen Ausführung sowie der souveränen Anlage großer Flächenformen bei gleichzeitig minutiöser Ausarbeitung einzelner Details – zum Beispiel Gesicht und Hände des Mädchens, Hemd und Nacken des Jungen – manifestiert sich nicht nur Lasersteins handwerkliche Virtuosität, sondern auch ihr besonderes Einfühlungsvermögen für die dargestellten Modelle. Das Schicksal dieser Kinder „vom traurigen Land“ – wie Laserstein das Teufelsmoor nannte – erscheint auf subtile Weise gleichermaßen vorgezeichnet wie ungewiss.
Kinder mit Handwagen ist in einer Reihe mit Lasersteins besten Bildern der 1930er-Jahre zu nennen. Auch die Künstlerin selbst schätzte dieses Werk offensichtlich sehr, denn nach Vollendung, die vermutlich im Berliner Atelier stattfand, ließ sie es professionell fotografieren. Das Werkfoto befindet sich heute im Archiv der Universität der Künste, Berlin. Bei Drucklegung des Werkverzeichnisses (2006) war die Fotografie der einzige Beleg für die Existenz dieses Werks, der Verbleib des Originals war damals unbekannt. Erst kürzlich konnte es in schwedischem Privatbesitz aufgefunden werden. Das Gemälde gehört zu jenen Werken, die Laserstein bei ihrer Emigration nach Schweden 1937 ins Exil retten und dort später veräußern konnte. Laut Aussage des Vorbesitzers wurde es von dessen Vater direkt von der Künstlerin erworben.
1 Anna-Carola Krausse, Lotte Laserstein: Meine einzige Wirklichkeit, München 2018, S. 57.